Sucht man in der Schweiz nach innovativen Schulen (z.B. auf ProfilQ, IQESonline oder beim Schweizer Schulpreis), tauchen einige Begriffe immer wieder auf: Lernlandschaft, Lernatelier, Mosaik-Schule, Altersdurchmischtes Lernen (AdL), SOL, selbstorganisiert, selbstbestimmt, personalisiert, individualisiert, (binnen)differenziert, eigenständig. In den Schulprogrammen der Urner Schulen ist eigenständiges Lernen ein Entwicklungsschwerpunkt. Doch was sich genau hinter solchen Schul- und Unterrichtskonzepten verbirgt, ist (für mich) selten klar. Lernlandschaft ist nicht gleich Lernlandschaft, AdL ist nicht gleich AdL und so weiter. Für die meisten Konzepte lassen sich glühende Befürworter und erbitterte Gegner finden. Wenn das Gleiche drauf steht, muss man sich trotzdem bei jeder Schule fragen: Was steckt drin?
Das soll keine wissenschaftliche Abhandlung werden, sondern eine Orientierungshilfe. Sie soll mir beim Erkunden neuer Schul- und Unterrichtskonzepte helfen (z.B. während einem Schulbesuch mit einem Beobachtungsbogen). Also eine „Röntgenbrille“ um herauszufinden: Was steckt drin? Natürlich work in progress, unvollständig und nicht wasserdicht.
Abschnitte:
- Warum tun die das? Gründe um auf neue Konzepte zu setzen
- Mehr Selbstbestimmung für die Lernenden
- alleine lernen – gemeinsam lernen
- Rolle der Lehrperson: vom sage on the stage zum guide on the side
1. Warum tun die das?
Warum setzen Schulen auf neue Konzepte? Das sind einige Gemeinsamkeiten:
- Organisation und Denkmuster der heutigen Volksschule stammen zwar aus dem 19. Jahrhundert, haben sich aber erstaunlich gut erhalten (innovationsresistenter als Schule ist wohl nur die katholische Kirche). Was für die industrielle Gesellschaft gepasst hat, passt aber nicht mehr für die sich rasant verändernde Welt des 21. Jahrhunderts.
- Wie funktioniert Lernen? Was wirkt? Die Wissenschaft gibt Antworten auf diese Frage! Zum Beispiel mit Erkenntnissen aus der Hirnforschung und Unterrichtsforschung (Hattie-Studie).
- Keine Schule kommt dran vorbei: Wie gehen wir mit Heterogenität um? Heterogenität ist eine Tatsache. Man kann sie ignorieren oder Kinder auf x Arten sortieren, sie verschwindet trotzdem nicht. Kinder unterscheiden sich hinsichtlich Alter, Entwicklungsstand, Vorwissen, Lerntempo, Intelligenz, Leistungen, Motivation, Elternhaus, Herkunft, Sprache… und jetzt?
- Auch wenn die Antworten auf die Frage oben unterschiedlich sind, klar ist, dass 10-G-Didaktik nicht funktioniert: Alle Gleichaltrigen haben zum gleichen Zeitpunkt, im gleichen Fach, beim gleichen Lehrer, im gleichen Raum, mit den gleichen Mitteln die gleichen Dinge zu tun und zu den gleichen Fragen in der gleichen Zeit die gleichen Antworten zu geben. Je nach Konzept wird an anderen Gs geschraubt.
- Ohne Differenzierung und Förderung der Selbständigkeit ist Umgang mit Heterogenität nicht möglich. Ohne Selbständigkeit ist auch lebenslanges Lernen nicht denkbar.
- Mehr Selbstbestimmung beim Lernen: Selbstbestimmung bedeutet, nach freiem Willen über sein Leben entscheiden zu können. Kinder und Jugendliche sollen zu selbstbestimmten Erwachsenen werden, da widerspricht kaum jemand. Doch Schule ist eine fremdbestimmte Umgebung. Die Lehrperson sagt, was, wann, wie und wo gelernt wird. Mehr Selbstbestimmung heisst nicht, dass die Lernenden tun und lassen können, was sie wollen. Der Lehrplan schreibt immer noch vor, was gelernt werden muss. Die Lernenden erhalten aber Möglichkeiten zum Mitbestimmten (z.B. wo, mit wem und in welchem Tempo sie lernen). Die Lehrperson übergibt Kontrolle und Verantwortung für das Lernen teilweise an die Lernenden (z.B. mit Wochenplan, Werkstatt, Projektarbeit).
- Kinder müssen zur Schule gehen. Das tun sie mehr oder weniger motiviert. Die Selbstbestimmungstheorie von Deci und Ryan sagt, dass sie Motivation entwickeln können, wenn drei psychologische Grundbedürfnisse erfüllt werden: Autonomie („ich kann mitbestimmen“), Kompetenzerfahrung („ich kann das“) und soziale Eingebundheit („ich gehöre dazu, die anderen brauchen mich“)
- Veränderung in der Rolle der Lehrperson: guide on the side statt sage on the stage, oder: Coach statt Wissensvermittler. In der neuen Rolle gewinnen Lernbegleitung und Feedback an Bedeutung.
- Manchmal geht es überhaupt nicht um pädagogische Überlegungen: Zum Beispiel altersdurchmischtes Lernen um die Schule im Dorf zu behalten.
- Was meistens keine Rolle spielt: digitale Medien, ICT. Das zeigt zum Beispiel ein Blick auf die Schulen bei ProfilQ, IQESonline oder Schweizer Schulpreis. Wie sieht eine Schule in einer durch und durch digitalisierten Welt aus? Mehr Individualisierung und mehr Selbständigkeit sind immerhin ein Teil der Antwort.
2. Mehr Selbstbestimmung
Wer bestimmt, was, wann, wo, wie, mit wem gelernt wird? Was können die Lernenden bestimmen?
Wo können Unterrichtsformen eingeordnet werden? Vier Beispiele sind in der Grafik dargestellt. Doch auch da gilt: Wochenplan ist nicht gleich Wochenplan.
Die Dimensionen von Offenheit sind hier genauer beschrieben. Falko Peschel stellt einen detaillierten Bestimmungsraster zur Verfügung. Ordnung im Begriffswirrwarr um Offenen Unterricht, Selbstbestimmung und Selbstregulation bietet das Buch Offener Unterricht heute von Thorsten Bohl und Dietmut Kucharz.
Der Sprung vom vollen Plan zum leeren Plan
Dürfen die Lernenden abarbeiten, was die Lehrperson vorgibt (in einem mehr oder weniger individuellen Plan)? Oder müssen sie eigene Inhalte wählen und sich eigene Ziele setzen? Klaus Holzkamp bringt das auf den Punkt: „Man kann nicht die eigene Selbstbestimmung erweitern, indem man von anderen gesteckte Ziele verfolgt.“ Was ich als „Sprung“ darstelle, ist in der Theorie eine Unterscheidung von Selbststeuerung und Selbstbestimmung (Thomas Häcker oder Thorsten Bohl und Dietmut Kucharz). In der Praxis sicher eine Knacknuss!
Pläne können unterschiedlich individuell sein: Vom gleichen Plan für die ganze Klasse (mit wählbarer Reihenfolge und unterschiedlichem Tempo) über Pläne für zwei verschiedene Leistungsniveaus, bis zum eigenen Plan für den einzelnen Schüler. Als Lehrperson für 20 Lernende 20 unterschiedliche Pläne zu erstellen, ist nicht leistbar. „Jedem Kind seinen eigenen Plan“ ist jedoch machbar, wenn die Lernenden ihren Plan selbst erstellen. Dazu ist ein Schritt – oder wohl eher Sprung – vom vollen Plan (durch die Lehrperson gefüllt!) zum leeren Plan (wird vom Lernenden gefüllt) nötig. Der Unterricht wird inhaltlich geöffnet: Die Lernenden wählen für sich selbst innerhalb von Vorgaben, setzen sich eigene Ziele. Sie erhalten mehr Selbstbestimmung, müssen aber auch lernen, damit umzugehen. Also ihr Lernen zu planen, überwachen, steuern.
3. alleine lernen – gemeinsam lernen
Wenn jedes Kind nach seinem individuellen Plan lernt, findet dann nur noch Einzelarbeit statt? Nein! Der deutsche Hirnforscher Gerald Hüther bezeichnet das Hirn als Sozialorgan. Wir lernen vor allem von anderen am Modell und mit anderen im Austausch: Nachahmen, vergleichen, verändern, erweitern, verwerfen, ergänzen, festigen, bestätigen, auf Tauglichkeit prüfen. Auch wenn an individuellen Plänen gearbeitet wird, braucht es Gelegenheiten zum gemeinsamen Lernen. Gemeinsame Ziele, Inhalte und Erlebnisse.
4. Rolle der Lehrperson
Die Lehrperson wird vom Wissensvermittler zum Coach. Oder vom sage on the stage zum guide on the side. Natürlich darf sie immer noch erklären und Frontalunterricht bleibt eine wichtige Methode.
Lernbegleitung und Feedback
Feedback ist ein zentrales Element von gutem Unterricht. Erst recht, wenn Schüler ihr Lernen zunehmend selbst steuern. Die Unterrichtsforschung zeigt, dass Feedback einen sehr grossen Einfluss auf den Lernerfolg hat. In der Hattie-Studie befindet sich Feedback in den Top 10 der Einflussfaktoren für den Lernerfolg. Die Grafik zeigt, welche Fragen beim Feedback immer wieder zum Einsatz kommen.