Albert Einstein hat 1879 die Matura gemacht. Sein Zeugnis zeigt: Im Lehrplan der Volksschule kommen heute, immerhin 136 Jahre später, immer noch die fast gleichen Fächer vor. Gibt es mit dem Lehrplan 21 neue Fächer? Zurzeit passen die Kantone ihre Stundentafeln an. Zentrale Frage dabei: Welches Fach erhält wie viele Lektionen? Je mehr Lektionen, umso wichtiger das Fach. Also heisst die Frage eigentlich: Welche Fächer sind wichtig?
Nicht zu vergessen: Jeder Kanton entscheidet selbst über seine Stundentafel. Also gibt es einen Lehrplan für 21 Kantone (an dem jeder Kanton Änderungen vornehmen darf) und 21 unterschiedliche Stundentafeln.
Nichts ist unwichtig
Deutsch und Mathematik sind wichtig, da widerspricht kaum jemand. Ohne Fremdsprachen geht es nicht mehr. Bei so viel geistiger Arbeit braucht es Handarbeit, Werken, Musik und Gestalten erst recht. Und bewegen sollen sie sich auch, die Kinder und Jugendlichen. Es bleibt scheinbar nur eine Antwort: Alle Fächer sind wichtig. Bei keinem Fach kann man Lektionen streichen, die Stundentafel ist voll. Für neue Fächer gibt es keinen Platz. Vielleicht könnte man eine zusätzliche Lektion pro Woche einführen? Kinder noch länger in die Schule schicken? Und was eine zusätzliche Lektion erst kostet! Also kommt eine Lektion mehr nicht in Frage.
An den Stundentafeln wird es nur kleine Anpassungen geben. Einige Fächer erhalten zwar neue Bezeichnungen, doch es wird ein Fächerkanon weitergeführt, der im Kern aus dem 19. Jahrhundert stammt. Das einzige neue Fach ist Medien und Informatik. Genau genommen ist es ein Modul und kein Fach (was auch immer das bedeuten soll). Die Deutschschweizer Erziehungsdirektorenkonferenz empfiehlt zwar je 2 Jahreslektionen im 2. und 3. Zyklus (also zum Beispiel je eine Lektion im 5., 6., 7., und 8. Schuljahr), doch das werden die wenigsten Kantone für die Primarschule umsetzen. Stattdessen wird in der Primarschule Medien und Informatik in andere Fächer integriert. Irgenwie. Welche Fächer sind wichtig? Medien und Informatik spielen eine Nebenrolle. Oder eher: gar keine Rolle.
(Fast) nichts ändert?
Im Kanton Uri wird zur Zeit die Vernehmlassung zur Stundentafel ausgewertet. Schul- und Gemeindebehörden, Parteien und Lehrpersonen durften zum Vorschlag Stellung nehmen. Die offensichtlichste Änderung: Fächer erhalten neue Bezeichnungen. Aus Mensch und Umwelt, Ethik und Religion wird neu Natur, Mensch, Gesellschaft. Geografie, Geschichte und Staatskunde werden zu Räume, Zeiten, Gesellschaften. Während in anderen Kantonen über „Sammelfächer“ wie Natur und Technik an der Urne entschieden wird, fasst die Zentralschweiz Biologie, Physik und Chemie schon lange zu Naturlehre zusammen. Auf den Unterricht werden die neuen Namen kaum Auswirkungen haben. So hat ein Geschichtsdozent an der PH Luzern während einem kurzen Gespräch im Gang gemeint: „Wir schauen schon, dass bei Geschichte und Geografie nichts verwässert und vermischt wird.“
Da und dort wird eine Lektion verschoben. Für Diskussionen dürfte vor allem die Stundentafel der 5. und 6. Klasse gesorgt haben. So sieht der Vorschlag aus:
- Minus 2 Lektionen: Textiles und technisches Gestalten wird von 3 auf 2 Lektionen reduziert. Die Fachlektion fällt weg.
- Plus 2 Lektionen: Musik wird von 1 auf 2 Lektionen erhöht. Neu gibt es 1 Lektion für Medien und Informatik
Ich bin gespannt, wie die Vernehmlassungsantworten ausfallen und vor allem, wie der Erziehungsrat schliesslich entscheidet.
Alles ändert!
Während die Schule in ihren Strukturen aus dem 19. Jahrhundert verharrt, ändert die Digitalisierung alles um sie herum. Eine Lektion Medien und Informatik in der 5. und 6. Klasse entscheidet nicht über Erfolg oder Misserfolg des neuen Lehrplans und auch nicht darüber, ob Schulen endlich im digitalen Zeitalter ankommen. Sie wäre jedoch ein kleiner Schritt dorthin. Die Diskussionen rund um die Stundentafel sind ein Beispiel, das mir bestätigt:
- Mit dem Lehrplan 21 wird sich kaum etwas ändern.
- Medien und Informatik spielen nicht einmal eine Nebenrolle in der Schule, sie spielen keine Rolle. Sonst wäre es mit etwas Mut und Prioritätensetzung für die Bildungsdirektionen sicher möglich, eine einzige (!) Lektion in der Stundentafel unterzubringen.
Zum Weiterlesen:
- Bei der Diskussion um Schulfächer und Lektionen darf man natürlich fragen: Braucht es überhaupt noch Fächer? Denn nicht erst seit PISA ist bekannt, dass Schüler Mühe haben, Wissen über Fachgrenzen hinaus anzuwenden. Probleme in der Arbeitswelt sind meistens interdisziplinär und nicht etwa nach Fächern getrennt. Auch wenn die Schlagzeile Finnland schafft Schulfächer ab nicht ganz stimmt, zeigen die Finnen, in welche Richtung wir denken könnten. Vielleicht dann im Lehrplan 50, wenn es den überhaupt noch braucht.
- Alles ändert: Wenn es um die Zukunft der Arbeit geht, wird irgendwann ein Buch von Erik Brynjolfsson und Andrew McAfee erwähnt (Race Against the Machine oder The Second Machine Age). Plötzlich ahnt man: Das ist nicht Zukunft, das ist Gegenwart. Maschinen übernehmen nicht nur körperliche Arbeit in Fabriken, sie übernehmen immer mehr geistige Aufgaben. Sie schreiben Finanz- und Sportberichte, machen medizinische Diagnosen und juristische Recherchen. Was sich automatisieren lässt, wird automatisiert. Was muss man in einer solchen Welt können? Bereiten wir in der Schule auf diese Welt vor?
- Mit der kürzlich erschienenen MIKE-Studie (Medien, Interaktion, Kinder und Eltern) wurde die Mediennutzung von Primarschülern in der Schweiz untersucht.