Wie erhält man als Schulleiter einen Einblick in den Unterricht? Als Lehrer wurde ich meistens einmal pro Schuljahr während einer Lektion von der Schulleitung im Unterricht besucht, anschliessend fand das Mitarbeitergespräch statt. Eine andere Variante (mit der ich keine Erfahrung habe), ist der Classroom Walkthrough:
„Classroom Walkthrough ist ein Führungsinstrument für nachhaltige Unterrichtsentwicklung. Durch kurze, immer wiederkehrende Unterrichtsbesuche von vier bis sieben Minuten mit einem schriftlichen oder mündlichen Feedback innerhalb von 24 Stunden kann die Schulleitung Einblick in das Lehren und Lernen an der Schule nehmen. „
Eine überzeugende Idee habe ich im Buch The Innovator’s Mindset von George Couros gefunden. Man steigt für einen Tag in die Schuhe eines Schülers (S. 83):
„As part of getting my feet wet, my principal suggested I „be“ a student for two days: I was to shadow and complete all the work of a tenth-grade student on one day and to do the same for a twelth-grade student on another day. My task was to do everything the student was supposed to do: it there was a lecture or notes on the board, I copied them as fast I could into my notebook. If there was a chemistry lab, I did it with my host student. If there was a test, I took it […].“
Anschliessend wurden drei „key takeaways“ formuliert:
- „Students sit all day, and sitting ist exhausting.“
- „High school students are sitting passively and listening during approximately ninety percent of their classes.“
- „You feel a little bit like a nuisance all day long.“
Die takeaways werden bei jeder Schule anders sein, ich gehe jedoch davon aus, dass man so einen echten Einblick in den Schüleralltag erhält. Man schaut zudem aus der Perspektive eines Schülers auf die Lehrperson und nicht als aussenstehender Beobachter. Nach einem Tag in den Schuhe eines Schülers stellt man sich die entscheidende Frage: Möchte ich Schüler an meiner Schule sein?
Falls man als Schulleiter nicht mehr unterrichtet, könnte es sich auch lohnen, ab und zu in die Schuhe einer Lehrperson zu steigen (das gilt auch für andere Rollen im Bildungssystem, z.B. Mitarbeitende in der Bildungsverwaltung und an Pädagogischen Hochschulen).
Die Metapher „in die Schuhe der anderen steigen“ ist mir bei Rolf Dobelli begegnet (Die Kunst des guten Lebens, Kapitel Die Schuhe der anderen). Er macht klar, dass es nicht reicht, sich gedanklich in jemanden hinein zu versetzen:
„Sich in die Position seines Gegenübers hineinzudenken klappt selten. Der dazu nötige Gedankensprung ist zu groß und das Interesse zu klein. Um jemanden wirklich zu verstehen, muss man seine Position einnehmen – nicht nur gedanklich, sondern tatsächlich. Man muss in die Schuhe des anderen schlüpfen, die Situation des Gegenübers am eigenen Leib erleben. […] Der Rollentausch ist mit Abstand der effizienteste, schnellste und kostengünstigste Weg, um gegenseitiges Verständnis aufzubauen. Seien Sie der sprichwörtliche König, der sich als Bettler verkleidet unters Volk mischt.“
Georg Gusewski says
Danke für die Erinnerung an die Möglichkeit des Rollentausches. Hast Du es selbst auch schon gemacht?
pirmin.stadler says
Nein, ich habe das noch nicht selbst ausprobiert.
Morena Borelli says
Spannender Ansatz des „in die Schuhe eines Schülers / einer Schülerin steigen“. Durchaus sinnvoll- die Umsetzung scheint aber noch mit einigen Hürden verbunden zu sein.
Das Classroom Walkthrough wird bei uns schon seit einigen Jahren erfolgreich praktiziert!
pirmin.stadler says
Über den Classroom Walkthrough unterhalte ich mich gerne einmal mit dir. Wo siehst du Hürden beim „in die Schuhe eines Schülers / einer Schülerin steigen“?
Morena Borelli says
Wer unterrichtet, wenn die LP einen Tag in den Schuhen eines Schülers / einer Schülerin steckt? Wer deckt die Kosten? Wer gibt sich die Blösse eine Kollegin / einen Kollegen in seinem Unterricht aktiv dabei zu haben? Ist der Unterricht dann evtl. gekünstelt? Kommt eine LP nicht in eine unangenehme Rolle, da sicher Qualitätsunterschiede im Unterricht festgestellt werden könnten? Reicht ein Tag? Meiner Meinung nach braucht dieser Ansatz auch eine gewisse Akzeptanz und Offenheit der praktizierenden Bildungseinrichtung als Grundlage. Spannend, verlangt aber ein Umdenken aller Beteiligten. Ich würde es gerne ausprobieren!