Letzte Woche haben mir zwei Beiträge den Eindruck vermittelt, dass sich etwas tut in der Digitale-Bildung-Community. Es werden andere Fragen gestellt und „Fragen-Klassiker“ verlieren an Bedeutung (z.B. Wie viele Geräte braucht es pro Klasse? Beat Döbeli: „Hört endlich auf, Geräte zu zählen (weniger 1 pro Person ist zuwenig)“) :
- Lisa Rosa fragt in einem ausführlichen Blog-Post: Welche „digitale Bildungsrevolution“ wollen wir? Die Zusammenfassung liefert Jochen Robes. Da komme ich mir als winziger Fisch vor und denke: Viel bleibt da nicht mehr zu sagen.
- …Es sei nicht mehr die Frage ob. Sondern wie, hat Beat Döbeli Lisa Rosas Überlegungen an der 18. Tagung „Unterrichten mit neuen Medien“ aufgenommen. Er wunderte sich, dass einige Teilnehmer und Themen schon vor 18 Jahren dabei waren und forderte: „Wenn Medien auch bei der 18. Durchführung noch immer neu sind, sollte das Veranstaltungskonzept überdacht und die Tagung konsequenterweise abgeschafft werden!“ Seit ca. sechs Jahren bin ich auch an solchen Tagungen unterwegs, treffe dort oft die gleichen Leute und hoffe mit ihnen, dass die „neuen“ Medien in der Schule bald den – schon oft prophezeiten – Durchbruch schaffen. Ich bin gespannt, was für ein Format die PHSZ für die nächste IMS-Tagung wählen wird.
Warum sieht das für mich nach Bewegung aus?
In Europa eher unbeachtet werden in den USA riesige Summen in „Educational Technology“ gesteckt. Big Data und Learning Analytics versprechen personalisiertes Lernen. Jörg Dräger und Ralph Müller-Eiselt beschreiben das in ihrem Buch „Die digitale Bildungsrevolution“ sehr zuversichtlich und fordern, dass Europa (Deutschland) sofort den Anschluss sucht. Doch es stellen sich viele Fragen: Was ist mit Datenschutz? Wird Bildung auf Ausbildung reduziert? Fremdgesteuertes oder selbstbestimmtes Lernen (und Leben)? Das hinter solchen Technologien steckende Lernverständnis ist immer noch ein behavioristisches und man ist nahe bei Skinners Teaching Machines, wie Axel Krommer schon vor einigen Jahren treffend gezeigt hat:
Erkennbar ist das Lernverständnis zum Beispiel auch in bekannten Aussagen wie „alles Wissen ist im Internet, man muss es nur finden (filtern) und abrufen können“. Im Internet sind bloss Informationen. Daraus Wissen konstruieren, kann nur der Lernende (und das passiert im Kopf, nicht im Computer). Wer schon mal Schüler beim „Verarbeiten“ von Wikipedia-Artikeln beobachtet hat, weiss: So einfach ist das nicht mit dem Wissen aus dem Internet.
Mein Eindruck: In der Digitale-Bildung-Community werden vermehrt Fragen gestellt, die man lange vermieden hat (vielleicht weil man zu sehr mit den Skeptikern und Ewiggestrigen beschäftigt war):
- Eigentlich nahe liegend: Es geht ums Lernen, also sprechen wir darüber. Wir alle sind in die Schule gegangen, das macht uns aber noch nicht zu Experten. Denn so einfach ist das nicht mit dem Lernen. Was ist Lernen eigentlich (vgl. Lerndefinition von Mandl & Reinmann: Lernen ist ein aktiver, selbstgesteuerter, konstruktiver, situativer, emotionaler, interaktiver und damit sozialer Prozess.)? Wie funktioniert das? Sind Lerntheorien wie Behaviorismus oder Konstruktivismus doch nicht nur etwas für Bildungswissenschafter in ihren Elfenbeintürmen?
- Jetzt haben alle in der Klasse einen Computer. Was tut man damit, das ohne Computer nicht möglich war? Der Computer als Schreibmaschine (bzw. 500 Franken-Bleistift), für drill & practice und „im Internet recherchieren“, das reicht nicht. Wenn mir jemand von seinem 1to1-Projekt erzählt, frage ich immer (wenn mal die technischen Ausführungen durch sind): Und was tun die Schüler mit den Geräten im Unterricht? Die Antworten sind immer viel kürzer als die technischen Details. Aber vor allem sind sie oft unbefriedigend. In letzter Zeit habe ich gehört: „Quizlet wir oft benutzt. Ich glaube, sie machen viel mit OneNote. Outlook und E-Mails. Und natürlich recherchieren im Internet.“ Dafür lohnen sich die hohen Kosten nicht. „Wir haben jetzt interaktive Wandtafeln und Tablets“ reicht (hoffentlich) bald nicht mehr, um als innovativ zu gelten.
- Verhelfen neue Technologien aus dem Silicon Valley und „die Wirtschaft“ der digitalen Bildung endlich zum Durchbruch (denn neu ist gut, Hauptsache digital)? Oder zielt das in eine falsche Richtung? Welche digitale Bildung wollen wir nicht?
- Statt „welche digitale Bildungsrevolution wollen wir?“ heisst die richtige Frage vielleicht: Welche Bildungsrevolution wollen wir? Ganz selbstverständlich dabei: Die Revolution findet in einer digitalisierten Welt statt, digitale Medien gehören zur Lernumgebung dazu und wir lernen, um in einer digitalisierten Welt zu leben. Doch es geht nicht nur um die Digitalisierung. Die Schule zeigt viele Zerfallserscheinungen (z.B. den hilflosen Umgang mit Heterogenität und Strukturen, die aus dem vorletzten Jahrhundert stammen). Darum erkennen auch Bildungswissenschafter: Ein bisschen „herumdoktern“ reicht nicht mehr. Und sie liefern Lösungen, z.B. personalisiertes Lernen. Doch das wird von der deutschsprachigen Digital-Community wenig beachtet, denn digitale Medien kommen darin nicht vor. Ein Blick in die US-Community zeigt: Silicon Valley-Firmen versprechen ebenfalls „personalized learning“. Finden also Bildungswissenschaft und die Digital-Community doch noch zueinander? Was nach einem Traumpaar aussieht, täuscht: Personalisiertes Lernen und personalized learning (à la Silicon Valley) sind ganz und gar nicht das Gleiche. Personalisiertes Lernen (wie der Begriff im deutschsprachigen Raum, z.B. von Andreas Müller, gebraucht wird) entspricht eher dem englischen personal learning. Auf Unterschiede bin ich hier eingegangen. Vielleicht hat jemand bis hier gelesen und sagt: Das ist doch Wortklauberei. Doch der Unterschied zwischen personal und personalized führt zur Ausgangsfrage: Welche (digitale) Bildungsrevolution wollen wir?
Eine Fussnote: Was ist mit den Praktikern? Denjenigen Lehrpersonen, die sich weder für Bildungswissenschaft noch das Digitalzeugs interessieren? Die hoffen, dass jetzt dann mal Schluss ist mit den ständigen Reformen? Die einfach unterrichten wollen, so wie sie das schon seit Jahren tun, so wie es immer in Ordnung war. Weil die Wissenschafter keine Ahnung von der Praxis haben (die sollen mal vor einer Klasse stehen!) und weil die Digital-Euphoriker seit über 20 Jahren ihre Tagungen besuchen (die eher einem Familientreffen ähneln) und eine Revolution versprechen, die bis heute nicht eingetreten ist. Diese Lehrpersonen ähneln einem Kutscher, der versucht, eine kaputte, fast auseinanderfallende Postkutsche über eine Passstrasse zu lenken, während eigentlich schon lange ein Tunnel in den Berg gebohrt werden sollte. Es wird in der Schule bestimmt nicht ruhiger, einfacher oder gar so wie früher.
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