Die Klassengrösse wird von Politikern, Eltern und Lehrern immer wieder hitzig diskutiert. Klar ist: Mit grösseren Klassen lassen sich Kosten senken. Und der gesunde Menschenverstand sagt: In kleineren Klassen lernen Kinder besser und mehr. Weil die Lehrperson mehr Zeit für jedes Kind hat. Darum schaden grössere Klassen dem Lernerfolg. Doch der „gesunde Menschenverstand“ irrt sich wahrscheinlich. Könnte es sein, dass kleine Klassen dem Lernen schaden? Malcolm Gladwell befasst sich in einem Kapitel seines Buches David und Goliath genau damit. Er ist weder Lehrer noch „Bildungsexperte“, seine Erkenntnisse geben trotzdem zu denken:
- Die Wirtschaftswissenschaftlerin Caroline Hoxby in einer Studie zu Grundschulen in Conneticut (S. 43): „Viele Untersuchungen kommen zu dem Schluss, dass eine Reduzierung der Klassenstärke keine statistisch signifikanten Veränderungen bewirkt. Was nicht heisst, dass sie gar nichts bewirkt, sondern nur, dass diese Veränderungen sich nicht in den Daten niederschlagen. In einigen Schätzungen liegen die Veränderungen mehr oder weniger bei null, bei mir lagen sie sogar exakt bei null. Eine Reduzierung der Klassenstärken bewirkt also rein gar nichts.“
- Hoxbys Untersuchung sei eine von vielen, doch das Ergebnis ziehe sich wie ein roter Faden durch alle Studien, die sich mit dem Zusammenhang zwischen Klassengrösse und schulischen Leistungen beschäftigen (S. 43): „Etwa 15 Prozent aller Untersuchungen finden statistisch signifikante Beweise, dass Kinder in kleinen Klassen besser abschneiden, und ungefähr genauso viele Untersuchungen wollen herausgefunden haben, dass sie schlechter abschneiden. Etwa 20 Prozent kommen zu demselben Schluss wie Hoxby: Die Auswirkungen der Klassenstärken sind gleich null. Der Rest findet Beweise für beide Hypothesen, die jedoch nicht ausreichen, um daraus statistisch relevante Schlüsse zu ziehen.
Das will der „gesunde Menschenverstand“ nicht glauben. Wie lässt sich das „Rätsel der Klassenstärke“ erklären? Gladwell vermutet, dass sich der Zusammenhang von Klassengrösse und schulischen Leistungen nicht wie auf der linken Grafik, sondern wie auf der Grafik rechts aussieht (S. 52, die Grafiken sind Skizzen von mir): „Umgekehrte Parabeln druchlaufen drei Phasen, von denen jede ihrer eigenen Logik folgt. Auf der linken Seite sorgen zusätzlicher Einsatz und zusätzliche Ressourcen für Verbesserungen. In der Mitte bringt weiterer Aufwand nicht viel mehr. Und auf der rechten Seite sorgen weiterer Einsatz und neue Ressourcen sogar für eine Verschlechterung.“ (Fehler von mir: Damit diese Aussage passt, müsste ich in der Parabel-Grafik gross und klein bei der x-Achse vertauschen.) Der mittlere Teil der Parabel liege bei einer Klassengrösse von 18 bis 25 Lernenden. Kleinere Klassen würden zu einer Verschlechterung der Leistungen führen, grössere Klassen ebenfalls.
Warum gibt es keinen Unterschied zwischen einer Klasse mit 25 und einer mit 18 Kindern (S. 54)? „Die kleinere Klasse ist zweifelsohne besser für die Lehrer: Sie müssen weniger Hausaufgaben korrigieren und sich auf weniger Kinder konzentrieren. Aber die kleinere Gruppe bringt nur dann bessere Leistungen, wenn die Lehrer angesichts der geringeren Arbeitsbelastung ihren Unterrichtsstil ändern. Es deutet jedoch alles darauf hin, dass Lehrer dies nicht tun, sondern einfach weniger arbeiten.“
Können Klassen auch zu klein sein?
Gladwell hat Lehrer aus den USA und Kanada gefragt und die meisten haben die Frage mit ja beantwortet (S. 55 ff.). Einige Auszüge:
- „Meine Lieblingsgrösse ist 18. Bei 18 Kindern muss sich keins verwundbar fühlen, aber alle können das Gefühl haben, wichtig zu sein.“
- „Zwölf Kinder passen um einen grossen Esstisch herum, und das ist vielen zu intim […]. Diese Gruppen werden leicht von Grosssprechern oder Rüpeln dominiert, und das könnte allzu oft auch die Lehrkraft selbst sein. Und wenn wir bei sechs Kindern angekommen sind, gibt es überhaupt keine Möglichkeit mehr, sich zu verstecken, und die bereichernde Vielfalt an Gedanken und Erfahrungen geht fast völlig verloren.“
- „In der zwölften Klasse hatte ich einen Französischkurs mit neun Schülern. Das klingt wie ein Traum, oder? Es war ein Alptraum! Man bekommt in der Zielsprache einfach kein Gespräch und keine Diskussion mehr in Gang. Vokabel- oder Grammatikspiele sind kaum möglich. Dazu fehlt einfach der Schwung.“
Zu den Aussagen passt ein Aspekt der Lerndefinition von Mandl und Reinmann: Lernen ist ein aktiver, selbstgesteuerter, konstruktiver, situativer, emotionaler und sozialer Prozess. Wir lernen von anderen am Modell und mit anderen im Austausch: nachamen, vergleichen, verändern, erweitern, ergänzen, verwerfen, bestätigen… (vgl. Kursunterlagen CAS UESE, nicht online verfügbar). Dazu braucht es Mitschüler, die ähnliche Probleme haben, aber auch solche, die weiter sind. In einer kleinen Klasse fehlt für einige Schüler beides (Randbemerkung: Das spricht für altersgemischte Klassen).
Kleinere Klassen bringen etwas, wenn…
…der Unterricht verändert wird! Gladwell hat das weiter oben schon angedeutet („wenn die Lehrer angesichts der geringeren Arbeitsbelastung ihren Unterrichtsstil ändern“). Auch die bekannte Hattie-Studie kommt zum Schluss, dass das Verändern von Strukturen für sich allein wenig bringen (vgl. Klaus Zierer: Hattie für gestresste Lehrer, S. 33). Zu strukturellen Veränderungen gehört eben auch die Klassengrösse (Effektstärke = 0.21, wirkt wenig): „Lernende profitieren davon, aber nicht zu stark.“ Es zeige sich ein klarer Befund (S. 41): „Strukturelle Veränderungen alleine bewirken wenig. Sie können erst ihre Wirkung erzielen, wenn die Lehrpersonen die Strukturen zum Leben erwecken und ihr Handeln darauf abstimmen“.
Wenn also ein Lehrer mit 12 Schülern den gleichen Methodenmix wie mit 20 Schülern macht – Frontalunterricht, einige kooperative Lernformen – und dabei „ein bisschen mehr Zeit zum helfen“ hat, dann wird das kaum positive Auswirkungen auf die Leistungen haben. Wenn er jedoch den Unterricht verändert, indem er individualisiert, die Lernenden sogar ihre eigenen Lernpläne erstellen lässt, gezielt Feedback und Coaching einsetzt …dann hat das Auswirkungen auf den Lernerfolg.
Was lerne ich daraus (auch noch)?
Die Diskussion um Klassengrössen ist exemplarisch für:
- Es gibt (auch) bei Fragen rund um Schule und Bildung viele Annahmen, die mit „gesundem Menschenverstand“ richtig erscheinen – von Forschungsergebnissen jedoch widerlegt werden (und zwar nicht erst seit gestern). Schulen ignorieren wissenschaftliche Erkenntnisse oft. Das gilt z.B. für eine Frage, die alle Lehrer beschäftigt: Was motiviert Menschen? Eines vorweg: Zuckerbrot und Peitsche, Belohnung und Strafe, Smiley-Aufkleber, Schöggeli, Strichlisten und Nachsitzen gehören nicht dazu. Dan Pink gibt in einem TED-Talk Antworten und sagt: „There’s a mismatch between what science knows and what business does“. Man kann erahnen, dass sich business durch schools ersetzen lässt.
- Schuldiskussionen drehen sich oft um die „falschen“ Fragen (um Organisatorisches wie Stundentafel, Stoffpläne, Klassengrössen…) und verschleiern wichtigere Probleme. Von denen es in der Schule viele gibt (z.B. der hilflose Umgang mit Hereogenität oder Digitalisierung).
Björn says
„Der mittlere Teil der Parabel liege bei einer Klassengrösse von 18 bis 25 Lernenden.“
Der Haken dabei: Das sind keine realistischen Größen für Deutschland. Hier sind die Klassen eher 24-28, an einigen Schulformen bis 30. Und das ist nur der reguläre Teil, Nachrückende kommen (temporär) dazu.
Damit kommt selbst bei den gegebenen Annahmen das Gegenteil raus, denn damit würde man überhaupt erst in diese Größe rutschen…
Daneben ist die Übertragung einer kanadischen oder usamerikanischen auf deutsche, polnische oder chinesische Klassen Unfug, genazwie andersrum. Die sonstigen Bedingungen sind schlicht zu unterschiedlich, als das da irgendwas belastbares raus kommen könnte.
Und Punkt 3: Ignoriert man die oben genannten Punkte und ignoriert auch, dass diese wissenschaftlichen Untersuchungen NUR DANN keinen Unterschied zeigen, wenn man Altersgruppen wild mischt. Andernfalls, also bei Homogenisierung (kompetenzgleich) der Altersgruppen, zeigt sich eben doch eine signifikanter Unterschied. Und geht man dann noch weiter und schaut sich diese weltweiten Studien an, dann zeigt sich der unterschiedliche Ansatz und letztendlich läuft es auf Apfel-Birnen hinaus… „Klein“ definiert sich ja nach Studie auf mal 30 und auf alle möglichen Zwischenstufen davon… Eine ähnliche Spanne gilt für „Groß“.
Eine große Zahl an Studien vergleicht dann auch den Unterschied z.B. zwischen 24 (klein) und 25 (groß) liegt, was (wenig überraschend) nicht zu signifikanten Unterschieden führt. Diesbezüglich werden viele Studien auch kritisiert. Ebenso für die untersuchte Anzahl der Lerngruppen. Wenn in Studien nur 2 Klassen verglichen werden und daraus Schlüsse gezogen werden, dann ist das realitätsfern. Also eher Quatsch. So weit scheint das Kapitel also nicht zu blicken.
Was lerne ich daraus?
* 1 Kapitel in 1 Buch sind nicht der Weisheit letzter Schluss.
* Wer mit wissenschaftlichen Studien hantiert – und sei es über Sekundärliteratur – sollte sich durchaus auch mit der Kritik an den Studien auseinandersetzen. Bei Metastudien halt mit aller Kritik an allen. Der wissenschaftliche Background sollte bei Lehrern ja durchaus vorhanden sein.
* Schlüsse aus verkürzen Zusammenfassungen von verkürzen Zusammenfassungen aus wenig aussagekräftigen Studien zu ziehen, ist mindestens komisch…